Der Prügelknabe – Teil 1: Wildtierschreck

Das Mountainbiken im Wald sei problematisch. Für das Wild, welches sich gestört fühle und die Waldwege, welche durch das übermässige Befahren stark abgenutzt würden. Auch würden Mountainbiker keine Rücksicht nehmen auf die Wanderer und andere Waldbesucher. Mehr noch: Die Mountainbikenden fahren abseits der Wege, was besonders problematisch sei für das Wild. Ausserdem habe das Mountainbiken in den letzten Jahren stark zugenommen, so auch das Konfliktpotential. Und nicht wenige fahren mit ihren SUV und dem Bike auf dem Heckträger an den Wochenenden in die Alpen. Das Mountainbiken sollte verboten werden.

Sind dies nur haltlose Behauptungen oder ist da was dran? Handelt es sich dabei um eigene Erfahrungen oder Mythen, welche leichtsinnig weiterverbreitet werden? Ist das Mountainbiken tatsächlich ein Problem?

Mit dieser Blog-Serie versuchen wir, mehr Licht ins Dunkel zu bringen, einzuordnen und ein paar Gedankenexperimente anzubieten.

Mythos 1: Mountainbiker stören Wildtiere
Ja, das tun sie. So wie es Wandernde, «Hündeler», Pilzsammler, Reiterinnen und viele mehr tun. Die Anwesenheit des Menschen selbst ist es, welche das Tier stört.

Unbestritten ist, dass der Mensch Störreize verursacht, welche einen grossen Einfluss auf das Wild haben. Je nach Jahreszeit und Gesundheitszustand des Tieres können solche Störungen gerade in der Dämmerung schwerwiegende Folgen haben. Rot- und Rehwild ist vor allem in der Dämmerung äusserst störanfällig. Wenn der Mensch zahlreicher in die Wälder streift, reduziert dies mehr und mehr die Rückzugsgebiete der Waldbewohner. Dies führt zu einer Verringerung des Lebensraums, die möglicherweise mit einer Ausdehnung des Territoriums und einem Lebensraumverlust einhergeht, was wiederum Auswirkungen auf die Interaktionen zwischen den Arten und das Verhalten bei der Nahrungssuche hat.

Besonders schwerwiegend sind Störungen der Wildtiere im Winter. Dann wenn das Nahrungsangebot gering ist und die Tiere besonders achtsam mit ihrem Energiehaushalt umgehen müssen. Fluchtreaktionen können fatale Folgen haben. Skitouren, Schneeschuhwanderungen und Langlauf sind beliebte Winteraktivitäten. Doch es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Kanton diese einschränken will. Anzeichen, dass man das Mountainbiken einschränken will, jedoch sehr wohl.

Gewohnheitstiere
Es gibt einige Studien, welche die Störreize vom Mountainbiken genauer untersucht haben. Keine einzige Studie kam zum Schluss, dass Mountainbiken signifikant mehr Störreize als andere Freizeitaktivitäten verursachen. Wenn überhaupt. Einige Studien kamen sogar zur Erkenntnis, dass das Gegenteil der Fall sein könnte. Möglicherweise sei nicht die Geschwindigkeit das Problem, sondern die Aufenthaltsdauer. Zudem blieben die Mountainbikenden auf den Wegen, was für das Wild berechenbar sei. Dadurch gebe es weniger Fluchtreaktionen als bei den langsameren Fussgängern. Unter der Voraussetzung einer regelmässigen Wiederholung an gleichbleibender Stelle und dem Ausbleiben direkter Folgen für die Wildtiere beobachteten diverse Studien eine Gewöhnung an die Störreize. Um direkte Begegnungen räumlich oder zeitlich zu vermeiden, ändern die Tiere offensichtlich ihre Habitatnutzung und ihre tageszeitlichen Aktivitätsmuster. Zahlreiche Studien kommen zu diesem Schluss. Den grössten Stress empfinden die Wildtiere bei Fussgängern, welche sich ausserhalb der bestehenden Wege nähern. Dort also, wo ein Aufeinandertreffen für die Wildtiere ungewohnt ist.

Regulierung der Gewohnheitstiere
Beobachtete Verhaltensreaktionen lassen zudem nicht unbedingt auf das Ausmass oder die Art der Störeinflüsse schliessen. Viele der untersuchten Tiere werden oder wurden in der Vergangenheit intensiv bejagt. Fluchtreaktionen auf den Menschen können durch Jagdaktivitäten stark beeinflusst werden. Studien, die die Störeffekte von Outdoor-Aktivitäten in bejagten und nicht bejagten Populationen vergleichen, fehlen derzeit aber. Das verstärkte Fluchtverhalten von Rehen in öffentlichen Debatten wird zwar oft als Argument angeführt. Doch selbst der Verlust mehrerer Individuen wäre aus Sicht des Naturschutzes irrelevant, wenn die Populationsdynamik hauptsächlich durch die Jagd reguliert wird, um das Waldwachstum zu ermöglichen. Tatsächlich würde sich das Fluchtverhalten von Rehen wahrscheinlich erheblich ändern, wenn diese Arten nicht bejagt würden und sich ohne Angst an die menschliche Anwesenheit gewöhnen könnten.

Fehlinterpretation, Widersprüche und Forschungslücken
Die aktuellen Debatten unter den Interessenvertretern basieren oft auf einzelnen beobachtbaren Effekten, während bei dieser Überprüfung ein Mangel an Verständnis darüber festgestellt wurde, wie einzelne Effekte des Mountainbikens auf Wildtiere von Individuen auf die Ebene der Arten, Populationen oder Ökosysteme extrapoliert werden.

Widersprüchliche Ergebnisse von Studien über Auswirkungen des Mountainbikens auf Wildtiere machen es zudem unmöglich, eine generelle Bewertung machen zu können. Ein Hauptgrund für die widersprüchlichen Ergebnisse ist der Mangel an standardisierten methodischen Ansätzen für Studien, die die Reaktionen von Wildtieren auf das Mountainbiken untersuchen. Die Methoden reichen von experimentellen Ansätzen wie der aktiven Störung von Populationen bis hin zu GPS-Telemetrie und Kamerafallenstudien.

Trotz der gesellschaftlichen Relevanz bestehen überraschend grosse Forschungslücken. Dabei lässt sich anhand des aktuellen Forschungsstandes eine Schlechterstellung des Mountainbikens nicht begründen.

Ganzheitliche Betrachtung
Wildtiere werden in ihrem Zuhause gestört, das ist die Realität. Rückzugsorte müssen definiert werden, damit die am meisten Betroffenen Ruhe finden können, besonders dann, wenn es überlebenswichtig ist und dort, wo Jungtiere das Licht der Welt erblicken. Wer kann da schon dagegen sein?

Es gibt Studien darüber, welche eine Zunahme von Stresssituationen bei Wildtieren quantifizieren können. So kann anhand von Stresshormonkonzentrationen in Exkrementen von Wildtieren belegt werden, dass die Störungen über einen bestimmten Zeitraum zugenommen haben. Die Methodik kann jedoch keine Daten zu den genauen Ursachen liefern. Dies ist nur möglich mit einem zeitgleichen Monitoring, also der Erfassung der Ereignisse in unmittelbarer Nähe. Trotzdem ist es leicht, nachvollziehen zu können, dass das Wild durch immer mehr Menschen im Wald zunehmend in Bedrängnis kommt. Wann es zu viele Menschen im Wald sind und weshalb der Kanton nicht vermehrt auf Sensibilisierungskampagnen setzt, ist wesentlich schwieriger nachzuvollziehen.

Ausserdem geht in dieser ganzen Diskussion völlig unter, dass weitere, weit weniger thematisierte Faktoren eine viel grössere Rolle spielen dürften. Der Klimawandel zum Beispiel, welcher Lebensraumverschiebungen verursacht und zu Nahrungskonkurrenz bei zahlreichen Arten und Populationen führt. Dort macht man viel zu wenig. Lichtverschmutzungen führen zu unnatürlichen Verhaltensänderungen. Oder weshalb Feuerwerke in Waldnähe nach wie vor zugelassen werden. Es gibt sogar Feuerwerke, bei welchem Feuerwerkskörper aus dem Wald heraus abgefeuert werden. Wenn die Explosionen bei den Wildtieren noch zu wenig Stress verursacht haben, dürfte die Rauchentwicklung und die belastete Luft wohl den Rest erledigen. «Findet ja nur ein-, zweimal im Jahr statt» werden sich einige denken. Die Mountainbikenden sind natürlich öfters unterwegs. Wie Wandernde, «Hündeler», Pilzsammler und Reiterinnen. Mal abgesehen davon, dass das «Problem: Mountainbiken» derzeit nicht quantifiziert werden kann, sollte sich jeder die Frage stellen, welche Herausforderungen primär angegangen werden sollten: Leerer Kühlschrank, das Haus in Flammen oder die nervenden Nachbarn? Wenn man nett zu den Nachbarn ist, nehmen sie künftig mehr Rücksicht, helfen mit Lebensmitteln aus und unterstützen beim Löschen, wenn es mal brennt.


Quellen:
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Papouchis, C.M. et al. (2001): Responses of desert bighorn to increased human recreation. Journal of Wildlife Ma- nagement, 65/3, S. 573-582.
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